Sonntag, 1. März 2015

Ein kritischer Marxist wird Finanzminister

Foto: Wikipedia
Jörg Rüger - Eigenes Werk

Was den neuen griechischen Finanzminister umtreibt, wo er Karl Marx schätzt und wo er ihn kritisiert, erklärte bereits 2013 Yanis Varoufakis (geboren 1961) auf ca. 14 Seiten seiner Schrift "Rettet den Kapitalismus" (- vor sich selbst!).

Die Schweizer Zeitung "WOZ - die Wochenzeitung" Nr. 09/2015 vom 26.02.2015 veröffentlichte  nun seine Stellungnahme unmittelbar, nachdem die demokratischen Kräfte Griechenland die Wahlen für sich entschieden, in deutscher Übersetzung. 


Allein seine Zwischenüberschriften sollten unser lebhaftes Interesse wecken:

Unberechenbar im eigenen Marxismus
Marx’ bemerkenswerte Analyse
Die Freiheit der Neoliberalen
Warum ein unorthodoxer Marxist?
Die Erkenntnis von Keynes
Die Lektion von Margaret Thatcher
Was sollten MarxistInnen tun?
Bündnisse mit dem Teufel


Hier einige Auszüge:

Meines Erachtens erleben wir gegenwärtig nicht einfach eine weitere zyklische Krise, die überwunden sein wird, sobald die Profitrate nach den unvermeidlichen Lohnsenkungen wieder steigt. Deshalb stellt sich für uns Radikale folgende Frage: Sollen wir diesen generellen Niedergang des europäischen Kapitalismus als Chance begreifen, ihn durch ein besseres System zu ersetzen? Oder müssen wir so beunruhigt sein, dass wir eine Kampagne zur Stabilisierung des europäischen Kapitalismus starten sollten?
Für mich ist die Antwort klar. Die Krise in Europa wird wohl kaum eine bessere Alternative zum Kapitalismus hervorbringen, sondern viel eher gefährliche rückwärtsgewandte Kräfte entfesseln, die ein Blutbad verursachen und gleichzeitig jede Hoffnung auf Fortschritt auf Generationen hinaus vernichten könnten.
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Vor diesem Hintergrund mögen Sie vielleicht überrascht sein, wenn ich mich als Marxist oute. Tatsächlich hat Karl Marx meine Sicht auf die Welt geprägt, und zwar seit meiner Kindheit bis heute. Darüber spreche ich nicht allzu oft freiwillig in der guten Gesellschaft, weil bei der blossen Erwähnung des M-Worts zumeist abgeschaltet wird. Aber ich verleugne es auch nicht. Nachdem ich einige Jahre vor einem Publikum referierte, dessen Ideologie ich nicht teile, ist in mir das Bedürfnis gewachsen, offen über den Einfluss von Marx auf mein Denken zu sprechen. Und zu erklären, warum ich, obwohl ich ein dezidierter Marxist bin, es wichtig finde, seiner Theorie in bestimmten Fragen entschieden zu widersprechen. Das heisst mit anderen Worten, im eigenen Marxismus unorthodox und unberechenbar zu sein.
Ein radikaler Gesellschaftstheoretiker kann, so glaube ich, den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream auf zweierlei Arten herausfordern: einerseits durch eine eingegrenzte Kritik, indem er die Axiome des Mainstreams akzeptiert und dann dessen interne Widersprüche aufdeckt, indem er sagt: «Ich werde eure Annahmen nicht bestreiten, aber dies sind die Gründe, warum eure eigenen Schlussfolgerungen nicht logisch daraus hervorgehen.» So hat Marx die britische politische Ökonomie untergraben. Er akzeptierte jedes Axiom von Adam Smith und David Ricardo, um zu zeigen, dass im Rahmen ihrer Annahmen der Kapitalismus ein widersprüchliches System war. Andererseits kann ein radikaler Theoretiker natürlich eine alternative Theorie konstruieren in der Hoffnung, dass sie ernst genommen wird.
Bezüglich dieses Dilemmas war ich immer der Meinung, dass die herrschenden Kräfte niemals durch Theorien gestört werden, die von anderen Annahmen als ihren eigenen ausgehen. Kein etablierter Ökonom wird sich heute mit marxistischen oder auch nur neoricardianischen Theorien auseinandersetzen. Man kann den Mainstream neoklassischer ÖkonomInnen nur herausfordern, wenn man die internen Widersprüchlichkeiten seines eigenen Modells zeigt. Aus diesem Grund hatte ich mich von Beginn an entschieden, in die «Gedärme» der neoklassischen Theorie einzutauchen und praktisch keine Energie darauf zu verschwenden, ein alternatives, marxistisches Modell des Kapitalismus zu entwickeln. Meine Gründe dafür waren, behaupte ich, durchaus marxistisch.
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Den Schriften von Marx begegnete ich relativ früh als Folge der seltsamen Zeiten, in denen ich aufwuchs, als Griechenland versuchte, dem Albtraum der neofaschistischen Diktatur zwischen 1967 und 1974 zu entrinnen. Was mich beeindruckte, war Marx’ unübertreffliche, überzeugende Gabe, ein dramatisches Drehbuch für die menschliche Geschichte zu schreiben, ja für die menschliche Verdammnis, die durchwirkt war von der Möglichkeit der Erlösung und wirklicher Spiritualität.
Marx schuf eine Erzählung, die von Arbeitern, Kapitalisten, Beamten und Wissenschaftlern bevölkert war – dramatische Figuren, die um Vernunft und Wissenschaft im Rahmen einer sich selbst ermächtigenden Menschheit kämpften, während sie, entgegen ihren Absichten, dämonische Kräfte entfesselten, die ihre eigene Freiheit und Menschlichkeit überwältigten und unterdrückten. Es war ein Zusammentreffen von Dr. Faust und Dr. Frankenstein mit Adam Smith und David Ricardo.
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Der erste Irrtum von Marx – die Auslassung – bestand darin, dass er zu wenig bedachte und darüber schwieg, welche Auswirkung seine eigene Theorie auf die Welt haben würde, über die er theoretisierte. Seine Theorie ist diskursiv aussergewöhnlich kraftvoll, und Marx spürte ihre Kraft. Warum war er dann nicht darüber besorgt, dass seine SchülerInnen, Leute, die diese kraftvollen Ideen besser verstanden als normale ArbeiterInnen, die via Marx’ Ideen auf sie übertragene Kraft womöglich dazu benutzen könnten, andere Genossen auszunützen, ihre eigene Machtbasis aufzubauen und einflussreiche Positionen zu gewinnen oder etwa auch mit beeinflussbaren Studentinnen zu schlafen?
Marx sah auch eine andere Dialektik nie voraus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Schaffung eines ArbeiterInnenstaats – wie ursprünglich in der Sowjetunion – den Kapitalismus dazu bringen könnte, zivilisierter und sozialer zu werden, während der ArbeiterInnenstaat durch die Feindseligkeit der kapitalistischen Umgebung durch den Virus des Totalitarismus infiziert würde.
Der zweite Irrtum von Marx, den er meines Erachtens aktiv vorantrieb, war schlimmer. Es war seine Annahme, dass die Wahrheit über den Kapitalismus in den mathematischen Formeln seines Modells entdeckt werden könne (etwa mit den «Reproduktionsschemata» 2). Das war das Schlimmste, was er seinem eigenen theoretischen System antun konnte. Der Mann, der uns die menschliche Freiheit als wichtigste ökonomische Kategorie nahebrachte, der Wissenschaftler, der der radikalen Unentschiedenheit ihren gebührenden Platz in der politischen Ökonomie einräumte: Das war derselbe, der schliesslich mit vereinfachenden algebraischen Formeln herumspielte, in denen Arbeitseinheiten natürlich voll quantifiziert waren, und der dabei wider alle Vernunft hoffte, aus solchen Gleichungen zusätzliche Einsichten über den Kapitalismus zu gewinnen. Nach seinem Tod vergeudeten marxistische ÖkonomInnen lange Karrieren damit, sich einem ähnlichen scholastischen Mechanismus hinzugeben. Versponnen in die sinnlose Debatte über das «Transformationsproblem»3 und was damit anzufangen sei, wurden sie allmählich zu einer beinahe aussterbenden Rasse, während der neoliberale Moloch jeden Widerspruch, der im Weg stand, zermalmte.
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 John Maynard Keynes stand der Linken feindlich gegenüber. Er liebte das Klassensystem, das ihn hervorgebracht hatte, wollte persönlich nichts mit dem Plebs zu tun haben und arbeitete hart und geschickt, um Ideen zu finden, mit denen der Kapitalismus trotz seiner Anfälligkeit für womöglich tödliche Starrkrampfanfälle überleben könnte. Als aufgeschlossener, freigeistiger, bürgerlicher Liberaler hatte Keynes die seltene Gabe, nicht vor Herausforderungen an seine eigenen Vorannahmen zurückzuschrecken. Mitten in der Grossen Depression nach 1929 brach er aus der Tradition aus, in der er aufgewachsen war. Er bemerkte, dass die Beschäftigung weiter sank, je tiefer die Löhne fielen, und die Investitionen nicht einmal nach einer langen Phase von Nullzinsen anwuchsen, und er war bereit, die Lehrbücher wegzuwerfen und das Funktionieren des Kapitalismus neu zu überdenken.
Soviel zum Einlesen in die marxistisch fundierten Positionen des griechischen Finanzministers.
Der komplette Artikel kannin der "WOZ - die Wochenzeitung" - Link oben - gelesen werden.

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