Mittwoch, 19. August 2015

Varoufakis für Kinder


Time for Change

In "Time for Change" entfaltet Yanis Varoufakis die Grundlagen seines Denkens – indem er seiner Tochter in allgemeinverständlicher Sprache die Welt der Wirtschaft erklärt. Behutsam, Schritt für Schritt und doch voller Leidenschaft bringt er ihr und uns seine kritische Perspektive auf die europäische Finanzpolitik nahe

Eine Leseprobe

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Warum gibt es so viel Ungleichheit?

Wieso sind die australischen Aborigines nicht in England eingefallen?
Alle Babys kommen gleich nackt zur Welt. Aber schon bald werden manche von ihnen in teure Kleidung aus Luxusläden gesteckt, während die große Mehrzahl eher Lumpen trägt. Wenn sie ein bisschen größer geworden sind, rümpfen die einen regelmäßig die Nase, wenn ihnen Verwandte und Paten noch mehr zum Anziehen schenken, während sie selbst lieber andere Geschenke hätten, und die anderen träumen davon, dass sie eines Tages in Schuhen zur Schule gehen können, die keine Löcher haben.
Das ist die eine Seite der Ungleichheit, die unsere Welt bestimmt. Du hörst vielleicht etwas von dieser Ungleichheit, aber du bist nicht damit konfrontiert. Denn in deine Schule gehen keine Kinder, die wie die bedrückende Mehrzahl zu einem Leben verurteilt sind, das von Entbehrungen und sogar von Gewalt gezeichnet ist. Zumindest theoretisch ist dir allerdings schon bewusst, dass es den meisten Kindern auf der Welt nicht so gut geht wie dir und deinen Mitschülern, das weiß ich. Neulich hast du mich gefragt: »Warum gibt es so viel Ungleichheit?« Mit meiner Antwort war ... nicht einmal ich zufrieden. Insofern hoffe ich, du erlaubst mir, dass ich es noch einmal versuche, und diesmal habe ich eine eigene Frage.
Du lebst in Sydney, und deshalb gibt es in deiner Schule viele Unterrichtsstunden und Veranstaltungen zu den Aborigines – über das Unrecht, das man ihnen zugefügt hat, über ihre Kultur, die die britischen weißen Kolonialherren zweijJahrhunderte lang mit Füßen getreten haben, über die Armut, in der sie empörenderweise heute noch leben. Hast du dich aber jemals gefragt, wieso die Briten in Australien eingefallen sind und den Aborigines ohne weitere Umstände das Land geraubt haben (und sie im Grunde damit vernichtet haben) und wieso sich nicht das Umgekehrte abgespielt hat? Wieso sind nicht Aborigines-Krieger in Dover gelandet und schnell nach London vorgedrungen und haben dabei jeden Engländer umgebracht, der sich ihnen zu widersetzen wagte? Ich wette, in deiner Schule hat kein Lehrer an so eine Frage auch nur zu denken gewagt.
Die Frage ist aber wichtig. Wenn wir sie nicht ausführlich beantworten, laufen wir Gefahr, gedankenlos zu akzeptieren, dass die Europäer letztlich klüger und fähiger waren. Das umgekehrte Argument, dass die australischen Aborigines bessere Menschen waren und deshalb nicht selbst zu herzlosen Kolonialisten geworden sind, ist nicht überzeugend. Der einzige Weg, das zu beweisen, hätte vorausgesetzt, dass sie imstande waren, große Ozeanschiffe zu bauen, und auch die nötigen Waffen und die Kraft hatten, die englische Küste zu erreichen und das britische Heer zu schlagen, und dass sie sich trotzdem entschlossen hätten, die Engländer nicht zu versklaven und ihnen auch nicht in Sussex, Surrey und Kent ihr Land wegzunehmen.
Insofern bleibt die Frage weiter zentral: Warum gibt es so viel Ungleichheit zwischen den Völkern? Sind manche Völker klüger als andere? Oder gibt es vielleicht etwas anderes, was nichts mit Abstammung oder menschlicher DNA zu tun hat, als Erklärung dafür, dass du in den Straßen deiner Stadt nie die Armut gesehen hast, die dir auf einer Reise durch Thailand begegnen würde?

1 Kommentar:

  1. Brecht in Fragen eines lesenden Arbeiters: "So viele Berichte. So viele Fragen." - könnte auch heißen: So viele Fragen. So wenige Antworten.

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